Eine Re:flexion von Georg Diez.
Georg Diez ist Autor, Journalist und Fellow bei ProjectTogether. Seit über zwanzig Jahren liefert er scharfe Analysen unseres Zeitgeschehens und gestaltet Diskurse mit – wenn er sie nicht selbst anstößt. Basierend auf seiner Re:flexion möchten wir mit Euch ins Gespräch und ins gemeinsame Handeln kommen. Schreibt uns dazu gerne via: reform@projecttogether.org.
Städte und Gemeinden ermöglichen die Erfahrung gelebter Demokratie. Was oft abstrakt bleibt, in der politischen und publizistischen Debatte wie in der Verfassungswirklichkeit, wird in der städtischen Realität konkret. Städte und Gemeinden – groß, mittel, klein – sind damit der Ausgangspunkt einer praxisnahen, unideologischen, wirkungsorientierten Demokratie des 21. Jahrhunderts – doch es fehlt die geeignete Form der Governance, in Deutschland wie in Europa.
Es ist, entgegen aller Vernunft und auch entgegen allen Verlautbarungen der vergangenen Jahrzehnte, immer noch die Nation, die den demokratischen Bezugsrahmen bietet. Es sind Wahlen auf Bundes- oder Landesebene, die die Machtoptionen sortieren, es ist in Deutschland die Logik einer staatlichen Ordnung, die unter spezifischen Voraussetzungen geschaffen wurde, vor knapp 75 Jahren und unter dem Eindruck eines vernichtenden Krieges – und die nun dringend neu gedacht und konzipiert werden muss.
Tatsache ist: Die Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form ist in einer Sinn- und Legitimationskrise, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sie nicht die angemessenen Formate anbietet, um die Probleme unserer Zeit anzugehen. Der Eindruck ist: Die Demokratie liefert nicht genug. Symbolisch und strukturell geht viel verloren durch die Schichtungen von Bund und Land, Geld, Verantwortung, die Kommunikation, was wirklich wichtig und möglich ist – eine Demokratie der Städte und Gemeinden könnte eine Demokratisierung der Demokratie bedeuten.
Dazu braucht es keine Verfassungsrevolution – der Föderalismus wirkt wie ein ehernes Band, es schnürt die politische Imagination zusammen und lässt demokratische Innovation verkümmern. Das Gute ist: Man muss den Föderalismus gar nicht direkt angehen oder diskutieren – man kann an einer anderen Verfasstheit des Landes arbeiten, ohne die Verfassung zu ändern. (Obwohl das ein wichtiger Innovationshebel wäre und eine Debatte darüber letztlich demokratiefördernd.)
Es gibt ja auch schon Formen der kommunalen Organisation, etwa die Spitzenverbände, den Städte- und Gemeindebund, in dem alle Städte und Gemeinden vertreten sind, den Städtetag, in dem nicht alle Städte vertreten sind, und den Landkreistag, in dem alle Landkreise vertreten sind – problematisch an dieser Konstruktion ist, dass es sich um drei Lobby- oder Interessensverbände handelt, ohne wirkliche Governance-Option. Sie agieren sehr politisch im Sinne von Konfliktminimierung und Veränderungsaversion. Es herrscht der kleinste gemeinsame Nenner, und es gibt wenig Raum für Experimente oder konstruktive und innovative Verbindungen und Öffnungen hin zur Zivilgesellschaft.
Dabei wäre das genau der Ansatzpunkt für eine neue Form der Stadt- bzw. Dorfdemokratie – die an ein altes Vorbild anknüpfen könnte, und zwar mehr als metaphorisch: die Hanse, die in frühmodernen Zeiten zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert eine vor allem von Kaufleuten getriebene Städtepartnerschaft etablierte, die mehr und mehr kulturellen Fortschritt und politische Verbindungen vorantrieb. Sie stellte eine mentale wie reale Parallelstruktur her zum entstehenden Europa der Nationen – und könnte, für heute gedacht, ein Modell sein für eine Demokratie, die sich an Interessen und Bedürfnissen der Bürger*innen orientiert.
Neue Städteverbünde entstehen bereits – etwa die NetZeroCities, gefördert von der Europäischen Union, ein Zusammenschluss von 100 Städten mit dem Ziel, bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu werden. In Deutschland ist die Kleinstadt-Akademie eine interessante Initiative, das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen fördert hier anhand von Themen wie Wohnen oder lokale Demokratie die Beratung und Vernetzung von Kleinstädten untereinander.
Aber all das ist Stückwerk angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa stehen. Was es braucht, ist eine Bottom-up-Initiative von Städten und Gemeinden, die sich anhand von Problemen und Lösungen organisieren und zusammenschließen, die eine gemeinsame Ambition für eine wirkliche Machtoption entwickeln, etwa die Verteilung von Geld an bestehenden nationalen Strukturen vorbei. Was es braucht, ist eine zeitgemäße Organisationsform, die es ermöglicht, sehr viel flexibler und wirkungsvoller – und am besten auch über nationale Grenzen hinweg – an den gemeinsamen Problemen und Lösungen kommunaler Realität zu arbeiten.
Diese Organisation könnte sich, als neue Hanse, an der Form der alten Hanse orientieren. Das würde bedeuten, dass es Partnerschaften und Verbünde gibt, die erst einmal nicht die Stadt oder die Gemeinde als Ganzes betreffen, sondern bestimmte Chancen, Herausforderungen, Möglichkeiten betreffen, thematisch fokussiert, lösungs- und umsetzungsorientiert, an konkreten Zielen bemessen – eine Missionsorientierung als Grundprinzip einer neuen Hanse.
Ein solcher Städteverbund wäre damit sehr viel heterogener, flexibler, veränderungsoffener als ein institutionalisierter Verbund – die Vorteile wären, dass sich damit keine Verbands- oder Lobbylogik ergeben, dass man unabhängig von bestimmten politischen Mehrheiten und Gegebenheiten an inhaltlichen Fragen arbeiten kann und sich sehr genau auf die jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse konzentrieren kann. Es geht, mit dem Wissen, was in kommunaler Praxis steckt, um eine neue Genauigkeit in der Planung und Umsetzung von Lösungen anhand von kommunalen Clustern.
Die Themen ergeben sich dabei nicht aus der Programmatik von Parteien, sondern aus den Gegebenheiten und Erfordernissen unserer Zeit: Wie kann soziale Gerechtigkeit funktionieren? Was bedeutet der Klimawandel für die Kommunen? Wie kann Digitalisierung genutzt werden für die Demokratisierung? Wie wird die Wohnungsfrage gelöst? Wie kann Migration besser gelingen? Wie verbinden sich Wohlstand und Wohlbefinden im kommunalen Raum? Was ist notwendig an infrastruktureller Innovation? Wie muss Bildung organisiert werden, von 0 bis 100 Jahre? Was bedeutet die Zukunft der Arbeit für die Zukunft der Kommune?
Die Chance von Städten und Gemeinden besteht dabei darin, die Probleme, die alle sehen, mit Lösungen und einer positiven Vision und Geschichte zu verbinden. Das gute Leben, ein individuelles und gesellschaftliches Idealbild, lässt sich auf der konkreten kommunalen Ebene viel leichter formulieren. Etwa, bitte ergänzen:
- Eine lebendige Gemeinschaft, in der sich die Menschen gegenseitig unterstützen und einander kennen.
- Zugang zu qualitativ hochwertigen Bildungs- und Gesundheitsdiensten für alle Bewohnerinnen und Bewohner.
- Grüne und gut gepflegte öffentliche Räume, die zum Entspannen, Spielen und Verweilen einladen.
- Lokale Wirtschaften und Geschäfte, die Vielfalt und Kreativität fördern und Arbeitsplätze schaffen.
- Eine nachhaltige Umwelt, die Natur und Ressourcen schützt und für zukünftige Generationen bewahrt.
- Eine gerechte und inklusive Gesellschaft, in der niemand aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder sozialer Stellung benachteiligt wird.
- Eine aktive Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung bei Entscheidungen, die die Gemeinschaft betreffen.
- Kulturelle Vielfalt und kreative Ausdrucksformen, die das lokale Leben bereichern und Gemeinschaft stärken.
- Sicherheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit, das es den Menschen ermöglicht, sich frei und ohne Angst zu bewegen.
- Eine effiziente Infrastruktur, die Mobilität und Zugang zu Dienstleistungen erleichtert und das Leben in der Gemeinschaft erleichtert.
Zu lange fehlte dieses Idealbild im demokratischen Diskurs. Zentral – und parteiübergreifend – sollte es darum gehen herauszufinden, wie wir uns im 21. Jahrhundert dieses gute Leben vorstellen.
Diese Frage ist konkret, nicht abstrakt, und lässt sich nur im Konkreten umsetzen. Die Stadt – oder das Stadtviertel oder das Dorf – ist der Raum der Identität, wo solche Frage angegangen werden können. Demokratie ist auch eine Frage der Skalierung. Damit sie im 21. Jahrhundert gelingt, muss sie sowohl größere als auch kleinere Räume definieren. Die Kommune wird damit zur Keimzelle einer gelebten Demokratie, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.
Was bedeutet es, wenn die Verwaltung wie ein Team arbeitet?
Eine Herausforderung staatlichen Handelns ist die Frage, ob der Staat liefert. Oder warum der Staat nicht liefert. Man kann das als „responsiveness“ beschreiben, also das Gefühl, dass da Menschen arbeiten, die verstehen, was die Gesellschaft will, was wir brauchen. Und wenn es hakt, wenn man merkt, dass da etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, erkennt man oft, dass es an den Abläufen innerhalb der Verwaltung liegt – wie sie organisiert sind und wie falsche Prioritäten und Partikularismen die Abläufe behindern. Modul F ist ein Beispiel dafür, wie es anders gehen könnte; und verweist doch gleichzeitig auf die Dysfunktionalitäten im System: Wie können alle im Staat arbeitenden Menschen lernen, sich als ein Team Staat zu begreifen? Für diesen kulturellen Wandel müssen sich nicht nur Mitarbeitende aus Bund, Ländern und Kommunen als Kollegen begreifen, es müssen auch die Gräben zwischen Referaten und Abteilungen überwunden werden. Zuständigkeiten haben ihre Funktion, aber wenn eine risikoaverse Kultur des “Das ist nicht meine Zuständigkeit” übernimmt, verliert staatliches Handeln leicht an Dynamik. Spoiler Alert: Auch der Föderalismus hilft hier nicht wirklich weiter.