Gesellschaft ist Veränderung. Was bedeutet das aber für die Konstanten der Gesellschaft, etwa die Verfassung, die in Deutschland als Grundgesetz funktioniert und heute das 75. Jubiläum feiert? Es ist eine Frage, die in vielem zentral ist für das Wirken und vor allem für die Resilienz von Demokratie in Zeiten ihrer offensichtlichen Verwundbarkeit. Wir sind überzeugt, dass das Jubiläum der richtige Zeitpunkt ist, das Grundgesetz weiterzuentwickeln.

Diese Dimension des Morgens müsste in einer neuen Fassung des Grundgesetzes massiv gestärkt werden, auch weil das Thema der Generationengerechtigkeit zu einem zentralen Schauplatz gegenwärtiger und kommender politischer Auseinandersetzungen geworden ist – von der Steuer- und Finanzpolitik, dem
demographischen Wandel, einer alternden Gesellschaft und der Rentenlücke bis zur Bildung speziell in pandemischen Zeiten.

Das Recht auf Bildung ist dabei verbunden mit einer der fundamentalen Setzungen, die das Grundgesetz geschaffen hat und die sich immer mehr als scheinbar unlösbares Problem erweist: der Föderalismus, der die staatliche Wirklichkeit in Deutschland massiv belastet – etwa durch die strikte Trennung
von Bund und Ländern in Artikel 83 des Grundgesetzes: ´Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus.´

Daraus folgt eine starke Zuständigkeitsabgrenzung. Der Bund macht zwar die Gesetze, aber mit der Umsetzung hat er in der Regel nichts zu tun. Es ist ihm sogar verboten. Dies führt dazu, dass die föderalen Ebenen hintereinander arbeiten: Ein Bundesgesetz, welches dann in Gesetze der Länder übersetzt wird, welches dann die Kommunen anwenden. In der Theorie klingt die klare und widerspruchsfreie Zuständigkeitsabgrenzung gut, in der Praxis führt diese Abgrenzung aber zu erheblichen Gesetz-Umsetzungslücken.

Die praktische Verflechtung von Bund, Länder und Kommunen braucht übergreifende Teams. Aber “Co-Kreationsprozesse” zwischen Bund, Ländern und Kommunen sind in der Verwaltung bisher nicht vorgesehen, Mischverwaltungen sind sogar explizit verboten – das muss sich ändern. Der Artikel 91a Grundgesetz gibt es einen Anhaltspunkt, um die bisher verbotene Zusammenarbeit von Bund und Ländern zu etablieren: ´Der Bund wirkt auf folgenden Gebieten bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder mit, wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist.´

Veränderungen dieser grundsätzlichen Art sind so schwierig wie wichtig, und es bräuchte ein überparteiliches Verständnis, wie 1949, das der Größe der Aufgabe gerecht werden würde, jenseits von Ideologie und mit dem Pragmatismus guter Politik. Dann wäre es vielleicht möglich, die Schieflagen sowohl in Theorie
und Praxis deutscher Demokratie besser zu sehen. 

Vieles muss sich ändern: Migration etwa ist eine Realität unserer Zeit, sie wird nur dann zu einer Bedrohung der Demokratie, wenn sie entweder ignoriert oder schlecht gemanagt wird oder zu illiberalen Verhärtungen führt, die die
Demokratie von innen aushöhlen. Das Grundgesetz bietet hier keine geeigneten Gedanken und Worte – es geht gemeinsam darum, den Schritt zu machen von einer Abschottungs- zu einer Ankommensgesellschaft.

Oder die Digitalisierung und zentral die Frage, welche mediale Realität der demokratischen Debatte zugrunde liegt: Das Grundgesetz kennt das Internet nicht, es kennt Fake News nicht, es kennt nicht die Chancen und Gefahren, die in einer neuen digitalen Medienwelt warten - es kennt nur Fernsehen und Rundfunk und bleibt damit hinter der Gegenwart weit zurück. Weil aber Kommunikation theoretisch und praktisch so wichtig sind für eine funktionierende Demokratie, muss dieser Themenkomplex Technologie stärker präsent sein.

Und was ist mit der sozialen Gerechtigkeit, die Staatsziel sein sollte, gerade in Zeiten von systemisch erzeugter Ungleichheit durch eine Form von Kapitalismus, die 1949 nicht denkbar schien? Wenn Reichtum also verpflichtet, wie es im Grundgesetz heißt – dann bleibt die Frage: Wozu? Und was heißt
dem Wohle der Allgemeinheit?

Ein Vorschlag wäre es, sich noch einmal den Artikel 15 des Grundgesetzes anzuschauen, der die Vergesellschaftung von ´Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel´ vorsieht – speziell die gesellschaftliche Infrastruktur sollte Gemeinschaftseigentum sein: von Straßen und Schienen und eben auch der digitalen technologischen Infrastruktur wie Netze und Daten über Schulen, Krankenhäuser, die soziale und öffentliche Infrastruktur, bis zu Fragen der wirtschaftlichen Infrastruktur, was die Einkommens- und Vermögensunterschiede betrifft, die zunehmend demokratiegefährdend sind.

Je länger man also das Grundgesetz an diesem Moment der Feierlichkeiten betrachtet, desto mehr stellt sich heraus, dass es eine verständlicherweise veraltete Gebrauchsanweisung für die Demokratie ist, die eine Weiterentwicklung braucht. Die Vision, wie eine andere, gelebte Form der Demokratie aussehen könnte, über Parteien hinaus, ist sehr eingeschränkt vorhanden, aber die Stärke und Bedeutung speziell der Zivilgesellschaft wird nicht reflektiert.

Wie können also andere Formen von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit und damit gesellschaftlicher Freiheit benannt und umgesetzt werden? Wie kann eine Verfassung aussehen, die eher auf Wirkung orientiert ist und weniger auf Versprechen? Wie kann also die Gebrauchsanweisung für die Demokratie offener werden und einladender und dabei den Doppelcharakter behalten, den das Grundgesetz ausmacht: Es beschreibt zugleich den Horizont dessen, was Gesellschaft sein kann, und gibt allen Bürger:innen konkrete Mittel zur Hand, diesen Weg auch gemeinsam zu beschreiten.

Basierend auf dieser Re:flexion möchten wir mit Euch ins Gespräch und ins gemeinsame Handeln kommen. Wir sind gespannt auf Eure Antworten und laden Euch ein, uns zu schreiben und gemeinsam am Grundgesetz für 2099 zu arbeiten. Schreibt uns dazu gerne via: reform@projecttogether.org. 

The Bigger Picture

Was bedeutet es, wenn die Verwaltung wie ein Team arbeitet?

Eine Herausforderung staatlichen Handelns ist die Frage, ob der Staat liefert. Oder warum der Staat nicht liefert. Man kann das als „responsiveness“ beschreiben, also das Gefühl, dass da Menschen arbeiten, die verstehen, was die Gesellschaft will, was wir brauchen. Und wenn es hakt, wenn man merkt, dass da etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, erkennt man oft, dass es an den Abläufen innerhalb der Verwaltung liegt – wie sie organisiert sind und wie falsche Prioritäten und Partikularismen die Abläufe behindern. Modul F ist ein Beispiel dafür, wie es anders gehen könnte; und verweist doch gleichzeitig auf die Dysfunktionalitäten im System: Wie können alle im Staat arbeitenden Menschen lernen, sich als ein Team Staat zu begreifen? Für diesen kulturellen Wandel müssen sich nicht nur Mitarbeitende aus Bund, Ländern und Kommunen als Kollegen begreifen, es müssen auch die Gräben zwischen Referaten und Abteilungen überwunden werden. Zuständigkeiten haben ihre Funktion, aber wenn eine risikoaverse Kultur des “Das ist nicht meine Zuständigkeit” übernimmt, verliert staatliches Handeln leicht an Dynamik. Spoiler Alert: Auch der Föderalismus hilft hier nicht wirklich weiter.

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