Basierend auf seiner Re:flexion möchten wir mit Euch ins Gespräch und ins gemeinsame Handeln kommen. Schreibt uns dazu gerne via: reform@projecttogether.org. 

Was definiert die Beziehung des Staates zu seinen Bürger:innen? Wenn in Finnland ein Kind geboren wird, schickt die staatliche finnische Sozialversicherungsanstalt Kela den Eltern ein Paket. In diesem Paket sind Kleidung, Windeln und weitere Babyprodukte für das erste Jahr. Die Box selbst, die jedes Jahr von einem oder einer Designer:in entworfen wird, kann als Babybett verwendet werden. 

Wer in Deutschland ein Kind bekommt, erhält auch automatisch Post vom Staat: vom Bundeszentralamt für Steuern. Das erste Geschenk des deutschen Staates ist eine lebenslang gültige elfstellige Steueridentifikationsnummer, um die Steuerpflicht des Neugeborenen durchsetzen zu können. Dieser Unterschied zwischen Finnland und Deutschland zeigt symptomatisch ein grundlegend unterschiedliches Staatsverständnis, das weiter reicht als der Vergleich dieser beiden Länder.

Die Babybox steht für einen fürsorgenden Staat, der neue Mitbürger:innen willkommen heißt und Eltern unterstützt. Die Steuer-ID spiegelt das Verständnis der Verwaltung als ausführende Gewalt, deren primäre Rolle die Durchsetzung staatlicher Machtansprüche ist. Unser Verwaltungssystem ist immer noch geprägt von einem tief sitzenden hierarchischen und herrschaftlichen Organisationsprinzip. Das ist weder notwendig noch unüberwindbar.

Wie also kommen wir von der ausführenden Gewalt zur fürsorgenden Verwaltung? Oder weiter gefasst: Ist eine fürsorgende Demokratie möglich? Wie würde sie aussehen? Was können wir tun, um sie zu erreichen?

Diese drei Fragen stellt die Systemtheoretikerin Riane Eisler in einem Beitrag im Interdisciplinary Journal of Partnership Studies. Eisler hat ein analytisches Spektrum entwickelt, das menschliche Systeme zu ordnen hilft: Herrschaftssysteme etwa werden durch die Androhung von Gewalt aufrechterhalten und als natürlich präsentiert. Partnerschaftssysteme dagegen basieren auf gegenseitigem Einverständnis, Respekt und Gleichberechtigung – Gewalt wird vermieden und Macht wird geteilt, um einander zu unterstützen. Historisch und global lassen sich Gesellschaften auf dem Spektrum von Herrschaft bis Partnerschaft einordnen.

Die Einführung von Sozialstaatlichkeit, Grundrechten und Umweltschutz in Deutschland – Ideale von Verfassungsrang – verkörpern bereits Elemente von fürsorgenden Partnerschaftssystemen. Zu oft macht es jedoch staatliche Bürokratie den Bürger:innen schwer oder erliegt der Versuchung, Menschen kontrollieren zu wollen. Das führt nicht nur zu Frust, sondern auch dazu, dass der Staat seine Legitimität riskiert.

Wir leben in Zeiten, in denen sich immer mehr Menschen zurückgelassen fühlen – laut einer OECD Studie sinkt international die Zahl der Bürger:innen, die ihren Staat als empfänglich für ihre Bedürfnisse und Wünsche wahrnehmen. Eine fürsorgende Verwaltung, die die menschlichen Bedürfnisse konsequent ins Zentrum ihrer Organisationsform stellt, ist deshalb ein attraktives demokratisches Zielbild. Formell erfüllt die deutsche Verwaltung, so könnte man einwenden, bereits ein demokratisch legitimiertes Mandat. Riane Eisler aber arbeitet heraus, dass demokratische Wahlen nicht ausreichen, um Verwaltungshandeln zu legitimieren. Mindestens ein Teil der Legitimität einer Verwaltung entsteht in der Qualität der Beziehung mit den Menschen, für die sie da ist.

Die US-amerikanische Verwaltungspionierin Lulu Mickelson fragt: Ist Liebe eine zu unprofessionelle und schwache Kategorie, um der Verwaltung Orientierung zu geben? Und unter Rückgriff auf das Werk der Literaturwissenschaftlerin bell hooks antwortet sie: Nein, Liebe kann eine transformative Kraft sein, wenn sie nicht als ein romantisches Gefühl verstanden wird, sondern als eine konkrete Handlung, die auf Fürsorge, gegenseitigem Respekt und Vertrauen beruht. Wenn wir uns einen Staat von morgen vorstellen, der die Probleme bestehender Herrschaftssysteme nicht reproduziert, kommen wir an diesen Qualitäten von Fürsorge, Respekt und Vertrauen nicht vorbei.

Um mehr Fürsorge in bestehende Strukturen einzubauen, bedarf es eines tieferen Kulturwandels. Dieser beginnt auch bei der Sprache. Um sich vom alten Kontrollparadigma über Bürger:innen zu verabschieden, können wir bereits heute die Beziehung zwischen Staat und Bürger:innen partnerschaftlicher definieren, in dem wir uns vom Selbstverständnis und der Begrifflichkeit der „ausführenden Gewalt“ lösen – und auf ein weiteres Potenzial des Wortes Verwaltung fokussieren.

Der Begriff stammt vom althochdeutschen Wort waltan, dessen Bedeutungsspektrum von Gewalt haben, herrschen bis pflegen und sorgen reicht. Das Potenzial einer partnerschaftlich fürsorglichen Verwaltungskultur ist damit bereits im Wort angelegt, wenn wir es mit Leben füllen. Wie Georg Diez, Strategic Advisor bei Re:Form, in seinem Essay 'Der Staat bist du' schreibt, wird ein 'starker Staat' derzeit aber häufig mit einem strafenden Staat gleichgesetzt, nicht mit einem Staat, der Kitas und Krankenhäuser bereitstellt.

Da zunehmend klarer wird, wie wichtig frühkindliche Erfahrungen für spätere Beziehungen sind, ist die finnische Babybox vielleicht kein schlechter Ausgangspunkt um die Frage zu erkunden: Wie können wir das heutige Verständnis von Verwaltung von den historischen Wurzeln der Gewaltherrschaft lösen und eine zunehmend liebevolle, fürsorgliche und partnerschaftliche Verwaltungskultur entwickeln?

Literatur

The Bigger Picture

Was bedeutet es, wenn die Verwaltung wie ein Team arbeitet?

Eine Herausforderung staatlichen Handelns ist die Frage, ob der Staat liefert. Oder warum der Staat nicht liefert. Man kann das als „responsiveness“ beschreiben, also das Gefühl, dass da Menschen arbeiten, die verstehen, was die Gesellschaft will, was wir brauchen. Und wenn es hakt, wenn man merkt, dass da etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, erkennt man oft, dass es an den Abläufen innerhalb der Verwaltung liegt – wie sie organisiert sind und wie falsche Prioritäten und Partikularismen die Abläufe behindern. Modul F ist ein Beispiel dafür, wie es anders gehen könnte; und verweist doch gleichzeitig auf die Dysfunktionalitäten im System: Wie können alle im Staat arbeitenden Menschen lernen, sich als ein Team Staat zu begreifen? Für diesen kulturellen Wandel müssen sich nicht nur Mitarbeitende aus Bund, Ländern und Kommunen als Kollegen begreifen, es müssen auch die Gräben zwischen Referaten und Abteilungen überwunden werden. Zuständigkeiten haben ihre Funktion, aber wenn eine risikoaverse Kultur des “Das ist nicht meine Zuständigkeit” übernimmt, verliert staatliches Handeln leicht an Dynamik. Spoiler Alert: Auch der Föderalismus hilft hier nicht wirklich weiter.

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